Oktober.
Ich drehe am Herdknopf. Platte links oben. Wir sind vermutlich der letzte Haushalt in diesem Land, der über Elektrokochfelder mit Gusskochplatten verfügt. Irgendwo habe ich gelesen, dass diese als veraltet gelten. Mich beschleicht das Gefühl, dass das stimmen könnte und gute Gründe hat. Jedenfalls höre ich das Klacken des Fehlerstrom-Schutzschalters. Ich muss in den Keller. Bekanntes Szenario. Ich werde nicht überrascht sein. Ich werde vorbereitet sein. Ich habe die Wahl zwischen einer Zombiehaube mit vernetzten Augenschlitzen und einem gebrauchten Mundschutz, den ich in einer Schublade zwischen Batterien, Kugelschreibern und Zetteln finde. Ich öffne die Kellertür und sprühe, warte und steige schließlich hinab. Die weitere Vorgehensweise ähnelt der aus vergangenen Jahren.
Ich sitze auf dem Toilettendeckel und sehe meinem Kind beim Tauchen zu. Versuche den unendlichen Geschichten zu folgen (es spricht sogar unter Wasser), nicke ab und zu, während ich Chili Cheese Nuggets esse und Champagner trinke.
Wenn ich nicht weiß, was ich anziehen soll, kann das an unzulänglichen, unpassenden Kleidungsstücken liegen, an einem Körpergefühl oder daran, dass ich mich verloren habe und nicht weiß, wer ich bin oder sein will, ob die Hülle meinen Gemütszustand übertünchen oder unterstreichen soll. Ich entscheide mich für meine älteste Jeans und Latschen mit Korksohle. Ich fühle mich ziemlich sicher, kann so aber auf keinen Fall aus dem Haus gehen.
Besonders in düsteren Zeiten liegt es mir fern, auffällig in Erscheinung zu treten. Dann bin ich am liebsten leise. Vielleicht auch abwesend. Ich höre zu und fange an zu denken, vergesse zu sprechen. In mir herrscht oft fürchterliches Gerangel und dröhnende Leere. Die Schädeldecke wirft jeden lauten Gedanken zurück.
Upu-pup.
Es dämmert. Es ist kühl. Ich ziehe das Laken etwas höher und wickele mich mit einer halben Drehung ein. Ich liege auf der Seite, mein rechtes Ohr rauscht, das linke Ohr lauscht. Da ist dieses Geräusch, dass ich nicht zweifelsfrei einem Vogel zuordnen kann. Es verfolgt mich mit gewissem Ehrgeiz. Konzentriert versuche ich, es zu überhören. Ein rohrflötenähnliches Upu-pup. Energisch schnaufend strampele ich mich frei, stehe auf und ziehe in Betracht, den rufenden Vogel von seiner Palme zu schütteln. Ich kann ihn sehen: ein Wiedehopf. Ich bin ein bisschen gerührt.
Ich betrachte die Tasse. Die grauen Spuren endlosen Rührens. Langsam gieße ich mir ein und kleckere. In meine Nase steigt der Duft von goldbraun gerösteten Bohnen und zitronenfrischer Spülmaschine. So schmeckt der Kaffee nur hier, denke ich. Nach Sonne. Und Zitrone. Ich lasse die heiße Milch auf dem Herd stehen und gehe nach draußen auf die Terrasse. Die in der Ferne liegende Stadt schläft noch im Nebel. Ein ausgesprochen friedlicher Moment. Ich tapse zurück in die Küche und gieße mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Mit meinem Finger verhindere ich, dass die Milchhaut in meine Tasse rutscht. Ich greife nach meinem Fotoapparat und mache mich in Badelatschen und Schlaf-T-Shirt auf den Weg. Ich klettere aufs Dach. Um auf den Horizont zu warten.
Leises Gackern, stetiges Gurren, Gezirpe und Gezwitscher. Ich stimme mit ein. Spreche kurz ein ernstes Upu-pup mit dem Wiedehopf. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass er sich einen anderen Ort für seinen morgendlichen Gesang sucht. Sascha findet, ich könne ohne Weiteres als Tiergeräusche-Imitatorin in der Turnhalle der nächstgelegenen Kleinstadt auftreten. Es sei mit passablem Erfolg zu rechnen.
„Ernie, mach‘ mal den Wiedehopf.“
„Ich kann nur den Truthahn!“
Zurück. Zuhause. Meldung: Auffälliges Gefieder, stolzer Kamm und ein langer Schnabel. Seltener Vogel in der Region gesichtet. Sascha: „Er weiß, wo Du wohnst!“
Zypern.
Ich umklammere das Lenkrad und atme geräuschvoll aus. „Warte. Ich muss kurz weinen.“ Ich sitze rechts. Fahre links.
Please do not put any toilet paper down the toilet.
Irgendjemand kocht Kaffee. Sieben Teelöffel auf acht Tassen Wasser. Meine Untauglichkeit präsentiert sich tiefschwarz.
Die Waschmaschine piept. Fehler E10. Es ist nicht das Flusensieb. Stellen wir nach dem Reinigen fest. Meine Recherche ergibt: Wasser zuführen. Ich stehe also die nächste halbe Stunde neben der Maschine und kippe in regelmäßigen Abständen Wasser über das Waschmittelfach in die Maschine. Funktioniert.
Die Wäsche ist noch ein wenig klamm. Ich schiebe den Ständer in die Sonne. Er bricht zusammen.
Ich schlüpfe in meine Jeans. An meinem Bein flattert etwas. Ich gebe einen Laut von mir.
Uno. Kurzfilm. Chips und Donuts. Krümel im Bett. Ich bleibe wach und lese. Kurz vor Mitternacht schleiche ich auf den Balkon. Der Mond spiegelt sich im Meer. In der Ferne ein kleines Feuerwerk. Ich schalte die Heizung aus, krieche zurück unter die Bettdecke, flüstere „Ein schönes Neues Jahr“ in die Dunkelheit und schlafe sofort ein.
Ernie möchte ein Fernlandkop erfinden – ein Fernglas mit dem man in andere Länder gucken kann.
Ich habe ein Déja-vu. Wir stehen mit unserem nicht geländetauglichen Mietwagen vor einer Straßensperre. Umkehren unmöglich. Zu steil. Zu rutschig. Auf der Suche nach einem Ausweg bin zumindest ich der Verzweiflung nahe. Weit und breit keine Menschenseele. Nur Ziegenskelette. Die magentafarbene Sonne sinkt ins Meer, die Umgebung taucht ein in tiefes Blau. Romantisch. Ich werde langsam panisch. Dann, aus dem Nichts, einige Hundert Meter vor uns – ein Fahrzeug. Einheimische. Wir folgen dem Jeep auffällig und erreichen nach etlichen Aufsetzern eine asphaltierte Straße. Und ich bin mir sicher: Sowas wird uns immer wieder passieren.
Zwischen Sommer und Herbst.
Wieder zu Hause. In den Räumen steht die Luft. Die Stille riecht verlassen. Eine seltsame Leere, die wieder mit Leben gefüllt werden muss. Ich öffne die Fenster, puste Staub von den Lampen, räume Taschen und sämtliche Schränke aus. Ich sortiere die Besteckschublade, reinige den Back- und den Kaminofen.
Ich sitze auf der Bank vor unserem alten Haus und trinke Kaffee, der anders schmeckt als gestern. Der leichte Wind wirbelt um die tief hängenden Äste. Leuchtendes Fliegegetier tanzt mit dem herabfallenden Laub. Die Sonne hat noch Kraft, denke ich. Vielleicht ist der Sommer doch noch nicht vorbei.
Der Garten ist wild und vertrocknet. Ein paar reife Tomaten hängen noch an den abgeknickten, ausgeblichenen Sträuchern. Der Zitronenbaum hat Läuse. Der Oleander blüht. Überall Kreuzspinnen.
Wabernder Nebel raubt mir sämtliche Illusionen und erklärt diesen wundervollen Sommer unmissverständlich für beendet. Feuchte, kalte Luft hängt tief am Boden und kriecht meine Knöchel hinauf unter meine polarisierende Hochwasser-Jeans.
Achtung ein Reim: Kastanien krachen zu Boden, die Äpfel aufs Dach. Die Heizung ist noch aus, das Holz nicht gehackt.
Kurz bevor der Wecker klingelt, ich schlafe noch, ertönt ein Gesang: „Heia, hussassa, der Herbst ist da.“
Ich zerquetsche eine halbe Avocado auf einem Weltmeisterbrötchen, das jetzt Hanseknacker heißt, blicke durch die schmutzigen Fenster und stelle fest, dass ich vergessen habe, die Biotonne rauszustellen.
Badezimmer. Ernie reißt die Tür auf: „Oh, schön, Dich hier zu sehen!“ Er wäscht sich die Hände und verschwindet wieder. Kurz darauf zettelt Otto durch die Tür eine politische Diskussion an. Ich sitze nicht nur auf der Toilette, sondern auch in der Falle.
Mallorca.
Während die anderen noch schlafen, fege ich die Terrasse und koche Kaffee. Winzige Ameisen marschieren zielstrebig durch die Küche zu einem kleinen organischen Haufen. Paella vermutlich.
Ich laufe vorbei am Grillplatz zum Nebenhaus. Ich öffne die Tür. In der Ecke des Badezimmers sitzt eine Kakerlake. Vielleicht ist sie tot. Ich husche in die Dusche. Später ist sie weg.
Im Schatten der Palmen beobachte ich eine kleine Meerjungfrau, einen Taucher, einen Arschbombenwettbewerb und ein Wasserballspiel.
Sommerregen. Kein einziges Tröpfchen Wermut. Randnotiz: Ich kann auf der Insel keinen Lillet finden.
Wir klettern über Tore, wandern durch dorniges Gestrüpp über spitze Felsen zum Piratenturm (Deía). Der Weg bietet kaum Schatten, dafür aber eine grandiose Aussicht. Die Jungs sind mir ein bisschen zu mutig.
Ensaïmada mit Erdbeeren zum Frühstück.
Wir fahren mit dem Roten Blitz von Bunyola nach Sóller. Es ist brechend voll.
Otto hat keine Zeit, um mit an den Strand zu fahren. Er hat einen Interviewtermin mit der Landeszeitung.
Einsilbige Kühe im Schwarzwald.
Unerwartet. Schön. Eigentlich wollten wir raue Küsten entlang wandern. Uns vom großen Ozean einschüchtern lassen. Und dann haben wir ausgeatmet, sind langsamer geworden und vielleicht sogar weiter gekommen.
Wir laufen über vertrocknete Wiesen, vorbei an grasenden, einsilbigen Kühen, durch den knusprigen Wald. Wir suchen Wanderstöcke, verlieren Ernies Hut und finden ihn später wieder. Der langersehnte, unangekündigte Regen verdunstet auf dem sandigen Boden. Wir bleiben trocken.
Ein Raum voller Zeit. Unzählige Kuckucksuhren ticken. Jede schlägt zu einer anderen Stunde. Von allen Seiten Rufe. Menschen, die auf Kuckucke starren. Ich kaufe einen ausgesprochen kitschigen Kuckucksuhrmagneten.
Dieser sirrende Sommer. Lange Tage voller Wirklichkeit. Lichterketten säumen romantische Abende unter der Markise. Es ist heiß. Die Dämmerung verspricht keine Abkühlung. Der Geruch von Aqua Kem Blue kriecht aus der Toilette. Die Nudeln sind gar.
Wir beobachten den flackernden Himmel. Leises Grollen. Faszinierend und angsteinflößend zugleich. Eine klebrige, warme Hand liegt auf meinem Oberschenkel. Die kleine Stimme erzählt unaufhörlich Geschichten in die Dunkelheit. „Mama, wusstest Du, dass es Käfer gibt, die leuchten können?“
Wie schwärmende Glühwürmchen leuchten Erinnerungen auf. Campground in South Carolina. In den Neunzigern. Meine Geschwister und ich sammeln Holz für das Lagerfeuer und kehren mächtig stolz mit einem halben Baumstamm zurück. Es knistert und knackt. Die Funken des riesigen Feuers sprühen in den Sternenhimmel. Wir hoffen, dass es die Schwarzbären davon abhält, uns zu besuchen. Mit zwei Fingern zupfen wir verkohlte Marshmellows von unseren Stöckern. Der Propeller auf der Schirmmütze meines kleinen Bruders beginnt, sich zu drehen. Früh am Morgen, wir schlafen noch, schleicht sich mein Vater aus dem Camper und läuft zum See. Er filmt die Ruhe und den aufsteigenden Nebel. Später werden die Bilder von Edvard Griegs „Morgenstimmung“ begleitet werden.
Kindergeburtstag.
Nudelsalat. Schokokuchen. Luftballons. Kreppbänder. Geschenke. Fertig vor Mitternacht. Sascha: „Geht doch!“ Dazu fällt mir der beständige Eintrag in meinem Zeugnis ein: „Sie kann, wenn sie will.“
„Endlich bin ich Fünf. Wenn das Lied angeht, darf ich ins Wohnzimmer oder?“ Steve Wonder – Happy Birthday. Immer. Ein Ritual aus meiner Kindheit. Danach Ernies Wunschlieder: „I shot the Sheriff“, „Wie schön, dass Du geboren bist…“
Sascha bringt Ernie und Kaktuseis in den Kindergarten.
Wir entrümpeln den Garten bzw. räumen alles Überflüssige in den Schuppen. Schutt- und Gestrüpphaufen, alte Heizkörper, instabile Gartenmöbel bewahren die Authenzität.
Sascha schleift die Bierzeltgarnituren ab. Jim mäht den Rasen. Otto befüllt das Planschbecken. Ich falle über einen der vier überfüllten Wäschekörbe im Flur.
Wir vergessen die Kartoffeln auf dem Herd und Ernies Geburtstagsgeschenk im Heizungsraum.
Bunte Kreppbänder wehen im Wind. Die Farbe wird mir später über die Hände laufen…
Ich kann den Kescher nicht finden. Einen der zwölf, die ich in meinem Leben schon gekauft habe. Den groben Schmutz fische ich mit dem Federballschläger aus dem Wasser.
Ein Maikäfer wohnt dem Geburtstagsspektakel bei.
Reisen ohne Kuchen.
Ich backe eigentlich nie Kuchen. Nur kurz bevor wir verreisen. Dann am besten zwei.
Unterwegs. Ohne Kuchen. Keine 24 Stunden nachdem wir gebucht haben.
Es ist es kalt. Sehr kalt. Der offene Kamin nicht mehr als ein Relikt. Die elektrische Heizung im Schlafzimmer defekt. Wir ziehen uns warm an, sammeln die Decken aus den anderen Zimmern zusammen und gehen ins Bett. Morgen wird es sicher wärmer. Vielleicht besorgen wir uns auch einen Heizlüfter.
Am nächsten Morgen höre ich erst den Esel, dann den Presslufthammer. Sascha fährt los, um Kaffee zu besorgen, den ich in diesem Moment sogar stark und schwarz trinken würde. Ich übertünche den Lärm mit Musik und versuche meine steifen Glieder geschmeidig zu tanzen.
Gut, dass wir nicht nur spontan, sondern auch krisenerprobt sind. Zum ersten Mal finden wir allerdings keinen anderen Ausweg als uns bei dem Vermieter zu beschweren. Hier können wir nicht bleiben. Dieser reagiert prompt und bietet uns eine alternative Unterkunft an. Obwohl es eigentlich überhaupt keinen Grund für unser Unbehagen dem Eigentümer gegenüber gibt, haben wir das Gefühl uns erklären zu müssen und schreiben Toni zum Abschied einen Brief.
Am späten Nachmittag verstauen wir unser Gepäck, sämtliche Lebens- und Genussmittel sowie eine beachtlich große Packung Toilettenpapier in unserem sehr kleinen Kleinwagen und machen uns auf den Weg zur neuen Finca.
April.
Nach den obligatorischen Reclam-Heften kam lange nichts. Sehr viele Jahre habe ich keine einzige Seite gelesen. Dass ich die Sprache nicht verloren habe, unerklärlich. Die Literatur und ich haben uns stets kritisch beäugt. Später sind wir wohlwollend umeinander herum scharwenzelt.
Vor 84 Wochen. Ich picke mir einen Bestseller heraus. Sicher ist sicher. Ich schließe mich im sanierungsbedüftigen Badezimmer ein, lege mich in die Wanne, in eine Pfütze, und lasse heißes Wasser über mein linkes Bein laufen, bis es rot leuchtet. Das Aroma-Schaumbad verspricht eine glückliche Auszeit. Ich beginne zu lesen „Es klingelt an der Tür, und im Treppenhaus riecht es nach frisch gebrühtem Kaffee. Das tat es eigentlich gar nicht, aber…“ Die natürlichen Öle aus Rotem Mohn und Hanf verwandeln sich in Kaffeeduft. Oh ha. Ich bin im Game. Mein Geist lechzt nach Geschichten. Sehnt sich nach fremden Wohnzimmern. Und lässt Unbekannte in meinem tiefsten Inneren wühlen. Ich fühle alles.
Wir sitzen im Auto vor der Tür des Steuerberaters. Ich loche die letzten Papiere. Ernie (4 J.): „Entschuldigung, dürfte ich kurz stören? Ich muss mal pieschen.“
Ich springe in den Sumpf der offenen Fragen, kämpfe mich durch das morastige Zeitgeschehen und ziehe mich mit letzter Kraft an das glitschige Ufer, während sich unterdrückte, im Verborgenen wimmernde Gefühle weiter im Schlamm suhlen.
Sascha steckt in einer manischen Kochphase. Das Problem: Der Tiefkühlschrank ist zum Bersten gefüllt. Rouladen, Gulasch, Rotkohl, Grünkohl, Bolognese, Gemüsebrühe, Hühnerbrühe, Birnen-Sellerie-Suppe, Königsberger Klopse. Ich weiß nicht wohin mit den Pommes und den Dinonuggets.
Seit fast 30 Jahren schnipse ich kleine Minzbonbons in meinen Mund und singe den dazugehörigen Jingle „Fresh goes better, Mentos freshness… “ Ich deponiere sie an verschiedenen Stellen: im Haus, in meiner Tasche, im Auto. Manchmal kleben sie auch an meinem Hintern.
Wagemut.
Hunger, den ich mit einem Mikrowellengericht und einem matschigen Stück Torte stille. Durst, den ich mit großen Mengen mildem Kaffee lösche. Schlaf, den ich mit einem offenen Auge bewache. Gedanken mutieren zu Zweifel, die mich ratlos zurücklassen und barrierefrei an meinem Verstand nagen. Ich stecke im frisch geschliffenen Türrahmen fest. Zwischen den Welten. Die nichts mit der großen weiten und dem Geschehen zu tun haben. Vorsichtig tastend, berührt die Korksohle den leise knarzenden Holzfußboden auf der anderen Seite. Wer es todesmutig in Badelatschen durch den eiskalten unterirdischen Tümpel schafft, kann auch Weltschmerz überwinden und über diese Schwelle treten. Vielleicht auch nicht.
Dezember.
Ich hebe mein Bein und schiebe den Duschvorhang bei Seite. Eine energische Kinderstimme übertönt das Rauschen des Wassers. Es klopft. Ich kneife die Augen zusammen, beiße mir auf die Lippe und quieke leise. Dann öffne ich die Tür. Einen winzigen Spalt. Da steht der 13-Jährige und streckt mir mein Telefon entgegen. Es erkennt dieses Gesicht samt Ausdruck und öffnet die Banking App. Mein Sohn verschwindet.
Heiligabend. Ernie ist krank. Otto backt ein Brot. Ich packe Geschenke ein. Sascha zerrt den nassen Nadelbaum ins Wohnzimmer.
Meine Familie steht vor der Tür, ich in Unterwäsche im Flur.
Sascha verschwindet mit einem Glas Wein und einem roten Mantel im Badezimmer.
Silvester. Ich rupfe meine Jogginghose aus dem Trockner. Die gute. Nach Gebratenem müffelnd legen wir uns ins frisch bezogene Bett. Nach Mitternacht (immerhin). Berauschend unberauscht.
Ich frage mich, ob diese Gerüche jemals den Weg hinaus finden. Die frische Luft wirft einen flüchtigen Blick durchs Fenster und macht auf dem Absatz kehrt. Während ich abwäge, ob ich es mit Räucherstäbchen, Essig oder Kaffee versuche, beschließen die Jungs den Raclette-Grill nochmal anzuschmeißen.
Neujahr. Motiviert stiefele ich die Kellertreppe hinunter. Die Kiste für die Christbaumkugeln schwimmt mir entgegen.
Tief in mir ein kleines Tief. Raus mit Dir. Raus mit mir. Die Wildnis liegt direkt an der Bundesstraße. Otto und ich überqueren den Fußgängerweg und strolchen durchs dichte Gestrüpp. Schlingpflanzen. Dornen. Schilf. Moosbewachsene Baumstämme. Ich fühle mich kurz wie Bear Grylls. Traue mich dann aber doch nicht in den hohlen Baum zu kriechen. Otto fotografiert locker aus der Hüfte und singt: „Komm, hol das Lasso raus…“
Novembermorgen.
Früher Novembermorgen. Ich öffne die Tür und lasse die kalte, feuchte Luft hinein. Die aufgehende Sonne taucht den tief liegenden Nebel in sanftes Gelb. Die Polster sind klamm. Der Wind ist still. In der Ferne stehen Heißluftballons am Himmel. Die Hühner gackern leise. Ich werde eine Kanne Kaffee kochen, denke ich. Ich rieche am frisch gemahlenen Pulver. Es wird noch für einen Morgen reichen. Ich lese weiter. Fröstelnd. Ich ziehe mir einen Pullover über und die Beine an. An Wollsocken habe ich diesmal gar nicht gedacht. Die Sonne wandert den Horizont entlang und schleppt sich mit etwas Mühe nach oben. Die Kraft reicht nicht mehr, um den Stein zu wärmen. Ich blinzele hinauf. Die Wolken ziehen mit meinen Gedanken weiter. Das Licht lehnt sich auf. Aufbäumend weist es dem kalten Schatten seine Schranken. Ich entkleide mich und lasse salzige Luft und Sonne an meine von Schuppenflechte geschundene Haut.
Früher Novembermorgen. Durch das Dachfenster sehe ich den eintönigen Himmel. Wie eine farblose Decke legt er sich auf die Dächer. Das Zwielicht hindert mich am Lesen. Geschichten in Bildern strömen durch mich hindurch, bahnen sich ihren Weg in meine Träume. Der Dämmerzustand weicht dem Duft der Rouladen. Ich stehe auf und schleiche die knarzende Treppe hinunter. Ich gehe, den Rotkohlflecken ungelenk ausweichend, zur Hintertür. Feine, dichte Regentropfen legen sich auf mein Gesicht.
Vielleicht kann ich beides mögen.
Der Salzpfad.
Ich lehne an der zerklüfteten Mauer. Hinter mir der Leuchtturm. Ich beobachte das aufgewühlte Meer. Ernie und Sascha laufen die raue Felsküste entlang. Die tosenden Wellen brechen, die salzige Gischt steigt meterhoch auf und sprüht ihnen ins Gesicht. Ich höre Ernie jauchzen. Er kneift die Augen zusammen und umklammert Saschas Bein. Der Wind weht beharrlich.
Ich schleiche um den Wacholder, will mich gerade hinhocken, als plötzlich Menschen in Trekkinghosen vor mir stehen und mich anlächeln. Ich habe sie gar nicht kommen hören. Normalerweise nähern sie sich euphorisch lachend und laut unterhaltend. Die hier müssen auf der Lauer gelegen oder das Gleiche wie ich vorgehabt haben. Ich gehe weiter. Suchend. Im Zickzack. Wahrscheinlich wissen bereits alle hier herumstreunenden Individualisten, was ich vorhabe. Ich gebe auf.
Irgendwann gehen wir wandern. Haben wir mal gesagt. Ich glaube, wir wollen das wirklich. Vielleicht halte ich deswegen dieses Buch in den Händen. Mich berührt die Geschichte sehr. Vieles kommt mir so vertraut vor. Ich glaube, wir sind ein bisschen wie Ray und Moth. Ein bisschen alt, manchmal verzweifelt aber immer zusammen. Unser Leben läuft nicht nach Plan. Wir brauchen keinen. Oft hangeln wir uns einen schmalen Pfad in schwindelerregender Höhe entlang. Wagen uns vor und wieder zurück. Wir geben nie auf und finden einen Weg. Und der könnte auch eines Tages den South West Coast Path entlang führen.
Wir trinken Tee, lesen und beobachten den Himmel. Zusammen. Jeder für sich.
Der Salzpfad – Raynor Winn
DuMont Reiseverlag
Dänemark.
Das Auto ist voll mit Kindern, Sachen und Lebensmitteln.
Lolland. Kumuliert habe ich ca. ein Jahr meiner Lebenszeit an Jütlands Westküste verbracht. Trotz meiner Erfahrung fliegt der Drachen auch an der Ostseeküste nicht lang und verfängt sich im Strandhafer. Frischer Wind weht uns um die Schnoddernasen.
Wir essen viele Hot Dogs und noch mehr Soft Eis.
Kopenhagen. Wir fahren mit der Bahn zum Hauptbahnhof und laufen quer durch Indre By vorbei am Rathaus über den Kongens Nytorf zum Nyhavn. Eigentlich wollten wir zur kleinen Meerjungfrau. Aber die Vorstellung ein Kind tragen und ein anderes schleifen zu müssen, hat uns davon abgehalten. Nach einer Pause in einem der vielen Restaurants am Hafen fahren wir mit der Metro zum Tivoli. Plötzlich erwachen die Lebensgeister aller Reiseteilnehmer. Es wird bereits dunkel. Der gesamte Park ist beleuchtet und passend zu Halloween schaurig-schön dekoriert. Ja, der Eintritt in den zweitältesten Vergnügungspark der Welt ist teuer. Aber für uns hat es sich gelohnt. Nach acht Stunden Kopenhagen sind wir erschöpft und voller bleibender Eindrücke.
Krokodille Zoo. Ein schöner kleiner Ausflug. Sehr nette Tierpfleger, die uns ganz viel Interessantes über die Krokodile und Alligatoren erzählt haben. Die Fütterung ist nichts für schwache Nerven. Kleiner Tipp: Entweder ihr findet jemanden, der eure Jacken, Mützen und Schals trägt oder ihr lasst sie besser im Auto. 28 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Draußen gibt es Sitzmöglichkeiten – picknicken erlaubt!
Møns Klint. Leider erreichen wir die Steilküste zu spät, um das GeoCenter zu besuchen. Wir wandern durch die wilde Natur über Holzwege zu den nahegelegenen Aussichtspunkten. Ich überlege kurz, ob ich die Treppe (497 Stufen) hinabsteige. Bin mir aber sicher, dass ich den Aufstieg in den angegebenen 15 Minuten nicht schaffe bzw. befürchte, den Rest meines Lebens am Fuße der Klippen verbringen zu müssen. Ich bin ein konditionelles Wrack. Also gibt es die Kalksteinwand nur von oben. Atemberaubend genug.
Apropos Keller. Fortsetzung.
Mir geht einiges durch den summenden Kopf. Die Mücken, die zusammen mit mir aus dem Keller geflüchtet sind, legen stereotype Verhaltensweisen an den Tag. Die Trägen nehmen an der frisch verspachtelten Wand Platz und genießen die angenehme Lichttemperatur, die Abenteuerdurstigen machen sich auf den direkten Weg ins Schlafzimmer.
Ich starre auf den Rüssel. Die Mücke schnuppert und denkt vermutlich: „Hey, Du riechst echt nice“. Ich sowas wie: „Du wirst hier nicht lebend herauskommen!“ Vor allem hoffe ich aber, dass ihre 859.369 Kollegen erstmal da bleiben, wo sie sind.
Anordnung: Niemand öffnet die Kellertür! Während ich mich um die Entflohenen kümmere, plane ich das weitere Vorgehen. Nachricht an Sascha: Bitte Insektenspray mitbringen. Gutes. Zwei Dosen.
Ich liege im Bett mit gespitzten Ohren. Mein Tinnitus rangelt mit dem Fiepen einer Mücke. Das Spielchen mit dem Licht ist bekannt. An. Stille. Keine Spur. Aus. Tanz auf der Nase. Plötzlich ein ganz anderes Geräusch. Jemand geht ums Haus. Ein ganz kurzes, sehr gehässiges Lächeln huscht über mein Gesicht. Sollte dies tatsächlich ein Einbrecher sein, ist der Weg durch den Keller eine fantastische Idee. Hereinspaziert! Kurz darauf ein Zischen. Der Kammerjäger meines Vertrauens nimmt die Sache ernst und sprüht, wie gewünscht, ein Biozidprodukt mit Frischeduft von außen durch die Kellerfenster. Der Rest der Nacht verläuft ruhig.
Der besondere Moment am Morgen: Wir lugen vorsichtig durch die Fenster. Wir haben erfolgreich 859.369 Insekten getötet und jetzt einen flächendeckenden Mückenteppich im duftenden Keller. Mir ist ein bisschen schlecht.
Ich bin für Streichholz reinwerfen. Sascha löst das Problem souverän. Er steigt mit dem alten Staubsauger hinab und bereitet dem Spinnenbuffet ein Ende. Ende.
Apropos Keller.
Der Keller ist ungeeigneter Lagerort (der Schimmel fürchtet sich nicht einmal vor der Zombiemaske und hat auch das Kunstblut befallen), dafür feucht-warmer Zufluchtsort für jegliche Art von Insekten. Viele. Sehr viele. Millionen Mücken tummeln sich da unten. Szenario des Schreckens: Der Strom fällt aus. Was nichts mit Unzulänglichkeiten des Energieversorgers zu tun hat. Eher mit meiner ambitionierten Art den Herd zu putzen (ich ertränke ihn in Wasser und Multifettreiniger). Das Licht reicht, um den Weg zum Keller zu finden. Ich öffne die Tür. Nur einen Spalt. Sie kommen mir entgegen. Ich habe keine Wahl. Ich vergesse Luft zu holen und steige hinunter. Sie fliegen mich an, sitzen auf mir, verfangen sich in meinem Haar. Brüllen mir ins Ohr. Was zur Hölle geht hier vor sich… Ich reiße die Augen auf, kneife sie dann schnell zusammen. Merke, dass es unmöglich ist zu atmen, ohne etwas zu verschlucken. Spüre Panik aufkommen. Ich halte mir einen Arm vor Mund und Nase. Mit der anderen Hand reiße ich den Stromkasten auf und schiebe den FI Schalter nach oben. Ich renne, stolpere die Treppe hoch, trete gegen die Tür und knalle sie wieder zu. Da stehe ich. Unter Schock.
Fortsetzung folgt.
Prima Aussicht.
Ich sitze in Unterhose auf der Porch des Mobilheims und blicke aufs Adriatische Meer (zum Glück gibt es kein Bild). Der Moment ist gekommen. Ich schlage Judiths Buch auf und lese die Widmung. Ich bin emotional sofort gefangen und plötzlich zehn Jahre alt. Ich gehe nach der Schule zu Oma und Opa und sitze in der winzigen Küche am Klapptisch. Mein Teller mit mehligen Kartoffeln und brauner Soße steht auf einem ovalen, lilafarbenen Platzset aus Kunststoff. Weiter im Text. Bruno. Kein schlechter Lastenfahrradfahrerinnenname. Weiter. Ich will nur kurz Schilling anrufen und nach einer freien Parzelle fragen. Ich sehe mich schon mit einem ordinären Kartoffelsalat vor dem Bauch an der kaputten Dosentür klopfen und fragen, ob wir zusammen grillen wollen. Ich will langsamer lesen, damit es bitte nicht so schnell vorbei ist…
Eine andere Variante. Ich drücke auf den Klingelknopf, so richtig, damit es auch wirklich klingelt, dann gegen die Tür. Ich drossele meine Geschwindigkeit, damit ich nicht schnaufend vor ihrer Tür stehe. Sie guckt einmal kurz um die Ecke und steht da dann so in ihrer Weste. Vielleicht sagt sie „Tachchen“ oder „Morjen“. Und ich sowas wie „Ick komm’ mal rin“. Wir setzen uns in die Küche. Unsere Söhne spielen sehr friedlich bzw. scheinen sich bezüglich des Fernsehprogramms einig zu sein. Wir wissen es nicht so genau. Wir rauchen und trinken Sektchen. Ich muss pinkeln und frage nach einem Töpfchen. Man weiß ja nie… Ich erzähle von dem Kirschbaum, auf den ich geklettert bin, um Kirschen für die Nachbarn zu pflücken. Ich mag keine Kirschen. Ich will sie wirklich niemandem madig machen. Aber sie sind es einfach. Immer. Weil Opa nicht von der Leiter fallen soll, wurde der Baum irgendwann gefällt. Später ist er von der Leiter gefallen, als er die Regenrinne reparieren wollte. Danach wurde das Haus verkauft und meine Großeltern sind in eine seniorenungerechte, barrierereiche Wohnung zurück in ihre Heimat, unweit des Polenmarktes, gezogen… Die Jungen würden mit Ketchup, wir mit Fusseln im Mund und dem Kopf auf dem Tisch einschlafen. So ungefähr. Vielleicht. Danke Judith für Dein Buch! Dafür, dass mir diese ganzen Dinge einfallen und ich alles aufschreiben muss.
Prima Aussicht – Judith Poznan.
DuMont Buchverlag
August.
Ich mag keine Fischbrötchen. Aber diese Bude.
Gefrierfach. Ich suche die Fischstäbchen und finde einen Schneeball.
Sascha hat heimlich einen neuen Staubsauger zwischen das Altpapier in meinen Kofferraum gelegt. Lieb’ ihn. Den Mann. Den Staubsauger auch.
Dieses kreischend knirschende Geräusch, wenn der Bagger an unserem Haus vorbeifährt, lenkt mich irgendwie von der Arbeit ab.
Es klingelt an der Tür. Könnte der Paketbote sein. Unser Postbote klingelt zweimal (im Ernst!). Es sind die Nachbarskinder. „Können wir vielleicht ein paar Aufgaben für Dich übernehmen?“ What? Äh… „Wir wollen nämlich ein bisschen Geld verdienen.“ Mist, mir fällt auf die Schnelle nichts ein. Hab’ aber spontan Lust, auf der Auffahrt Steine, Zeitschriften und Spielsachen zu verkaufen. Vielleicht finden die Bauarbeiter das interessant.
Jeder zweite Satz beginnt mit „Weißt Du…“
„Weißt Du, es gibt Papageien, die machen nur Geräusche und es gibt Papageien, die sprechen deutsch.“
Intervallfasten. Ich mach’ das jetzt. Also Bratbrot mit Käse ohne Limo.
Nicht ausflippen, das hat nichts mit dieser Bikinifigursache zu tun. Ich trage einen Badeanzug und dem ist es ziemlich egal, wer drin steckt. Mein Körper bekommt jetzt einfach nur mehr Zeit, um mit dem, was ich hineinwerfe (es ist automatisch wertvoller geworden), klarzukommen. Das klappt und fühlt sich gut an.
„Du bist kein Kaktus. Trinke ein Glas Wasser!“ Humor hat mein Telefon.
Unterm Tisch steht ein leeres Glas Milch. Vielleicht schon länger. Viel Spielraum für Interpretationen.
Sommermorgen.
Ich wache auf. Vor dem Hahn. Rauschendes, schweres Licht und schwüle Wärme dümpeln durch den Raum. Der graue Morgen zwängt sich durch das offene Fenster. Es fängt an zu regnen. Kein romantischer Sommerregen, durch den man tanzen will. Eher einer, der einen schonungslos begießt. Ich strampele die Decke zur Seite, ziehe meine Beine an. Ich lausche und sehe den anderen beim Schlafen zu. Der Hahn würde seufzen, wenn er könnte und beginnt zu krähen, weniger enthusiastisch als sonst. Ich bleibe liegen. Mache die Augen wieder zu. Bis ich das Krächzen der Kaffeemühle und Ernie rufen höre: „Guten Morgen Ihr Schnitzels!“
Kroatien.
Logbuch. Kroatien.
Unsere Reisegruppe ist auf dem Weg zum Gagasee (Gardasee) und landet am Adriatischen Meer.
Die sieben Badekappen kommen leider nicht zum Einsatz.
Die tiefgefrorene Bolo entpuppt sich als Gulasch.
Gewissensfrage am Morgen: Campingkocher schrubben oder wegwerfen?
Die Möwen klingen anders als zu Hause. Sie kreisen über unseren Köpfen und kacken ungeniert auf unsere Campingstühle.
Sternenklarer Himmel. Musik. Irgendwo weit weg. Ich spaziere mit einem Glas Wein in der Hand über den Campingplatz und verlaufe mich.
Campingplatz. Definitiv nicht das richtige Wort. Das Resort ist riesig.
Zwischen den Pinien stehen Zelte, Wohnwagen und Reisemobile. Jede Parzelle ist wie ein surreales Gemälde. Kleine eigene Welten.
Campinggadget 2021: Walkie-Talkies.
Die großen Kindern gehen zum Minigolfplatz. Ernie bleibt bei uns. Dachten wir. Plötzlich ist er verschwunden. Ich laufe los. Werde von einer Sekunde zur anderen panisch. Er kann noch nicht weit sein. Ich finde ihn! In der Hand das Walkie-Talkie. „Mama, Otto antwortet nicht!“
Ich stehe auf dem SUP und mache eine Figur. Keine gute. Nach der ersten Welle hab´ ich es raus.
Tennis. Erster Aufschlag. Der Ball fliegt über den Zaun bis zum Minigolfplatz.
Fünf Nächte an einem Ort. Rekord.
Ich treffe Thérèse (@quatschbanane) und ihre Crew in der Cocktailbar. Bisschen aufgeregt bin ich. Denn eigentlich kennen wir uns gar nicht. Sind uns aber überhaupt nicht fremd. Schön war das.
Hard Land.
Zwischen Sand und San Miguel. Ich trage es bei mir. Kann es kaum aus der Hand legen. Im Flugzeug. Es wird traurig. Es wird schlimm. Ich will die Tränen zurückhalten. Dann läuft meine Nase unter der Maske… ich lese weiter bis ich nichts mehr sehen kann. Die Sehnsucht. Die Verzweiflung. Die Unsicherheit. Die Trauer. Sommerferien. Herbeigesehnt und mit Erwartungen beschwert. Wege verwaisen, gehen auseinander. #euphancholie. Ich fühl’ es so sehr. Benedict Wells ist ein fantastischer Geschichtenerzähler. Ein interessanter Mensch. Ein Künstler. Ein musiclover. Ein Besuch seiner Website ist wie eine kleine Begegnung, bei der sich Blicke treffen, man nur ein paar Worte wechselt und nicht weiß, ob man gleichzeitiges Denken und Fühlen wirklich beherrschen kann. Während ich schreibe fahre ich freihändig durch die Playlist… Some were born to sing the Blues. Das hätte eine Rezension werden können. Jetzt ist es viel mehr. So etwas wie eine kleine Offenbarung.
Ich habe mir das Buch von Sara Burghoff ausgeliehen. Es hat Eselsohren. „Das sind Stellen, die mir besonders gefallen“. Bei jedem Knick frage ich mich, ob ich sie finde. In „meinen“ Büchern sind es Sternchen. Worte. Sätze. Beschreibungen. Gedanken, die mich an ein Buch binden. Die mich Teil einer Geschichte werden lassen. Ich will sie jederzeit wiederfinden.
Ich sprudele gerade ein wenig über, merke ich. Schön.
Juni.
Einen Haufen grauer Gedanken und einen Sack einengender Gefühle schleppe ich mit. Mein diffuses Ich steckt in einem trägen Körper, der sich schleifend und dennoch hektisch fortbewegt. Flüchtend. Zeitreisend. Mein Lächeln kriecht keuchend hinterher.
Vielleicht habe ich es zumindest geahnt. Klar war es mir jedenfalls nicht. Grotesk. Erst jetzt, hier, spüre ich den zehrenden Kampf, der mir noch in den Gliedern sitzt. Jetzt bin ich hier. Alles von mir. Meine Seele. Mein Leib. Mein Leben. Ich bin der Dumpfheit entkommen.
Es ist nicht wie früher. Doch die Vertrautheit trotzt der Veränderung. Ich atme. Tief.
Man kann es auch lassen.
Man kann Sneaker bei 60 Grad in der Waschmaschine waschen. Wenn man sie danach noch tragen möchte, nimmt man vielleicht besser sowas wie einen Schongang. Blitzeblank, aber deformiert. Ich stiefele bei 25 Grad durch Lüneburg. In Winterboots. Schweren Fußes betrete ich ein Schuhfachgeschäft. Ich nehme das erstbeste, gut putzbare Paar weiße Sneaker. Nur die Klettverschlüsse fehlen, um dem Pragmatismus eine Pointe zu verleihen.
Man kann „Sneaker“ im Duden nachschlagen: Besonders von Jugendlichen im Alltag getragener, aus dem Turnschuh entwickelter, sportlich wirkender Schuh. Herkunft: englisch(-amerikanisch) sneaker, eigentlich = Schleicher, zu: to sneak = schleichen.
Man kann die Farbe des Nagellacks „Popelgrün“ nennen. Füße sind jetzt sommerfein. Ich habe ab sofort also die Wahl zwischen Latschen und Schleichern.
Man kann den Wasserhahn zudrehen oder im richtigen Moment loslaufen, um den Rasensprenger zu verstellen.
Man kann, in einem Dorf lebend, an lauschigen Abenden mit den Nachbarn über Rasenpflege und Bewässerungstechnik plauschen. In Unterwäsche.
Man kann mit einem Glas Apfelschorle, in dem eigentlich Weinschorle sein soll, lässig auf den Rasenmähertraktor aufspringen, ohne sich oder den attraktiven Fahrer des Gefährts zu begießen. Vorausgesetzt man hat in seiner Jugend genügend Runden mit der Berg- und Talbahn gedreht.
Man kann auf jede beliebe Frage mit „Banane“ antworten, findet Ernie.
Man kann sich zu Tode erschrecken, wenn es dunkel ist, sich im Fenster nur das fahle Licht der Stehlampe spiegelt und plötzlich die Augen der Bengalkatze erscheinen, die neuerdings von außen auf die Fensterbank springt, um mich beim Denken zu beobachten. Vielleicht hat er (ich glaube es ist ein Kater) es auch auf meine Schnapspralinen abgesehen.
Mai.
„Ich bin der Kapitän und Du bist der Chef.“
Ketchup auf meinem neuen Pullover. Ich war es selbst.
Ernie: „Macht nichts Mama, der muss eh in die Wäsche.“
Meine Füße sind noch nicht sommerfein.
Schlunzrolle und Schweinekuchen. Ich muss mir noch eine passende Geschichte zu diesen beiden hübschen Wörtern überlegen.
Den Gaumen an Käse-Lauch-Hack-Suppe verbrannt. War ne gute Party.
Hochzeitstag. Der dritte. Wir frühstücken auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants. Zu zweit. Im Radio läuft „Bed of roses“.
Otto hat mir zum Muttertag Pfingstrosen geschenkt. Ich bin guter Hoffnung, dass er eine Schwiegermutter findet.
Ernie ist am Abend vor seinem Geburtstag bei Oma eingeschlafen.
Kurz vor Mitternacht. Es klingelt. Oma und Ernie stehen vor der Tür.
Ich sehe nicht, was Du nicht siehst. Spielen wir jetzt immer morgens vorm Aufwachen.
Hab’ mich endlich überwunden. Vorsorgetermin beim Hausarzt. Ich schildere kurz ein paar Symptome und prompt wird mir ein Corona-Erschöpfungszustand attestiert. Auf meine Bitte nach einer Blutuntersuchung schallt mir Folgendes entgegen „Sie werden sehen, da kommt nichts bei heraus.“ Ergebnis: ein stattlicher Hämoglobin und Ferritinmangel. Mein Eisenvorrat ist komplett aufgebraucht. Wie ich das wieder in den Griff kriege? Jedenfalls nicht mit Broccoli und Kichererbsen.
April.
Ich feile an meinen Roller Skills. Indoor.
In unserer Straße werden die Trinkwasserleitungen saniert. Stromleitung gekappt. Versehentlich. Das Herz des Notstromaggregats schlägt regelmäßig. Zunächst singe ich Lieder. Im Takt. Wenig später möchte ich das Ding zerstören. Den Rest der Nacht warte ich auf Rhythmusstörungen.
Ein Schokoladenfleck auf dem Sofa. Er grüßt. Ich sehe verstohlen weg.
Ich trinke ein bis zwei Tassen Kaffee am Tag. Manchmal sogar drei. Was ich schon lange weiß: Mir schmeckt nur der Erste.
Ich verschließe die Toastbrottüte mit dem Drahtschnippel und schneide das überschüssige Plastik ab.
Ich habe die Spülmaschine ausgesaugt. Etwas hat sich vor den Abfluss gesetzt. Etwas Organisches wahrscheinlich. Jedenfalls stand Wasser in der Maschine. Gut, dass der Staubsauger auch nass kann.
Otto: Ist das eine Bratwurstbude oder eine Corona-Testhütte.
Ich lese ein Buch. Quäle mich etwas. Scheinbar wird mein Durchhaltevermögen in sämtlichen Bereichen geprüft.
Morgens. Sascha schmiert sich ein Schwarzbrot und legt es zusammen mit einem Gürkchen in eine Dose. Unter seinem Arm klemmt eine Flasche Grapefruitsaft. Ich staune. Er verabschiedet sich. Kurz vor der Haustür ruft er: „Wo ist mein Turnbeutel?“
Rebellion beginnt im Auto. Ich stelle die Uhr erst um, wenn es sich lohnt, die Gartenstühle rauszuholen.
Es ist Zeit
Mit der Zeit ist es so eine Sache. Sie vergeht oft viel zu schnell. Dann bleibt sie plötzlich stehen. Manchmal teilt sie sich Ebenen. Viele Jahre haben wir uns nicht gesehen. Ich bin pünktlich. Meine Freundin öffnet die Tür in Unterhose. „Willkommen in meinem Struggle!“ Sie sieht toll aus, denke ich. Die Kinder toben. Ich fühle mich wie zu Hause! Wir sitzen auf der Terrasse. Sonnenstrahlen lassen die Härchen auf meinem Arm leuchten. Wir erzählen uns Geschichten, teilen Gedanken und genießen ruhige Minuten. Unsere Freundschaft kennt keine Zeit!
Brausebrand
Auf dem Markt. Am Lieblingsblumenstand. Mich spricht jemand an: „Sind Sie eigentlich Autorin?“ Ich, total perplex. Von einer Sekunde zur anderen weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt bin. Da hat sich doch tatsächlich jemand in meinen Klopfkäfer verliebt. „Ich würde sofort ein Buch von Ihnen kaufen!“. Oh Gott, ich werde gesiezt schiebt sich kurz vor ich habe ein Kompliment bekommen. Ich freue mich. Richtig doll. Mein Lächeln purzelt fast aus meiner Maske. Ich stammle irgendwas. Ja, da liegt ein halber Roman im Ordner Geschreibsel. Und es gibt viele kleine Anekdoten. Ich schreibe. Schon immer. Seit Jahren auch beruflich. Aber eine Autorin bin ich nicht. Glaube ich. Vielleicht könnte ich eine sein. Ich kaue ein bisschen auf diesem Ereignis herum. Fühlt sich an, als würde es zwischen den Zähnen hängen bleiben. Ich schlussfolgere jedenfalls, dass mir Schnaps und vegane Zigaretten fehlen. Laute Abende, an denen man im Brausebrand Dinge beschließt.
Matratzenbezug.
Dinge, die man besser nicht tut: Den Bezug einer Ferderkernmatratze abziehen.
Wer sich in diesem Moment fragt, warum man das überhaupt tut, bezieht entweder nie das Bett (zumindest nicht selbst) oder ist ein Fuchs und verwendet einen Matratzenschoner.
Während ich zerre und ziehe, mich verrenke und schnaufe, beschleicht mich das Gefühl, dass es sich, trotz des Reißverschlusses, um einen nicht abnehmbaren Bezug handeln könnte und mir nur noch wenige Sekunden bis zur Kapitulation bleiben. Ich sinke nieder. Unter erheblichen Kraftaufwand gelingt es mir, die Matratze wieder einzupacken. Ich renne umher. Dabei überlege ich. Mir fällt nichts ein. Der Ehrgeiz packt mich.
Ich werfe das riesige Stoffteil die Treppe runter, dann über den Esstisch. Ich arbeite sämtliche Reinigungsmittel ein und schleppe das Ding anschließend zur Badewanne. Ein Drittel des Bezugs ist mit Wasser getränkt. Ich ahne, dass ich diesen gleich nicht mehr bewegt, geschweige denn über eine Wäscheleine gehievt bekomme. Ich wuchte den Matratzenbezug über zwei Stühle, wobei er galant über den schmutzigen Terrassenboden schleift. Die Sonne geht unter. Es schneit. Ich lege einen Matratzenschoner auf die nackte Federkernmatratze und spanne ein Bettlaken darüber. Ich versuche den Bezug zu vergessen.
Klopfkäfer.
Es ist spät, dunkel und gemütlich. Ich bin alleine. Fast. Ein Geräusch. Ein winziges. Mit lauter werdender Stille wird es unüberhörbar. Es klopft. Ich stelle die Atmung kurzzeitig ein, lausche, schleiche durchs Zimmer. Ein Tierchen. Da bin ich mir sicher. Klingt rhythmisch. Da lässt sich was draus machen. Ich schweife gedanklich etwas ab. Dann strenge ich mich noch einmal an. Kann nichts entdecken. Es klopft beharrlich. Ich weite meine Suche aus. Google. Ha! Ein Klopfkäfer. Der kleine Kerl sitzt im Kaminholzkorb und versucht mit dem Klopfen ein Weibchen anzulocken. Ich bin betroffen, denn ich fürchte, ich bin nicht seine Kragenweite, und die Chancen, zwischen den feuchten Kaminholzscheiten, eine passende Partnerin zu finden, stehen ebenfalls schlecht. Ich stelle den Korb erst einmal vor die Tür. Die Tage vergehen. Ich hole ihn wieder rein. Es klopft. Natürlich. Vorhersehbar. Ich tue überrascht. Für den Fall, dass mich jemand beobachtet. Ich beginne ein Gespräch. Mit einem Käfer.
Februar.
Ich trinke Kaffee aus einem Emaillebecher und genieße die warmen Sonnenstrahlen. Eine leichte Gänsehaut huscht über meinen Körper. Otto grinst und fragt: Schmeckt´s? Ich registriere eine leichte Rosmarinnote.
Ich habe Thermoisoplethendiagramme ausgewertet!!!
Lodernde Flammen. Der kaputte Esszimmerstuhl brennt gut. Die Sitzgelegenheiten werden rar. Ein Hocker rückt nach. Wir haben Platz für einen Gast. Sehr konform.
Ich: „Guck’ mal ein Flugzeug. Da oben, ganz klein.“ Ernie: „Das ist nicht klein. Das sieht nur so aus, weil es weit weg ist.“
Ernies kulinarische Vorlieben beschränken sich derzeit auf Thunfischtoast ohne Thunfisch und Spaghetti mit silberner Soße. Otto nimmt nur noch warme Mahlzeiten zu sich. Mehrmals täglich.
Ich schaue in den Himmel als wäre es das erste Mal. Heute Nacht habe ich dem Regen zugehört. Ich habe die Geschichte schon oft gehört und doch klingt sie anders. Schön, war das. Ich freue mich so sehr über das neue Dachfenster.
Im Ordner „Privat“ liegt der Unterordner „Geschreibsel“. Der Lagerort für Notizen, Kurzgeschichten und 20 Seiten eines Romans, die ich mit Anfang 20 schrieb. Es geht um das Leben und Fragen, die auf Antworten warten. Aus der Sicht eines 38-Jährigen (!). Ich bin mittlerweile im Alter des Protagonisten und erstaunt. Sollte ich dieses Buch irgendwann weiterschreiben, müssen darin unter anderem nachfolgende Worte vorkommen: Vergreisung, Gestrüpp, Seidenschwänze und Schnapspralinen.
Ich find’s kacke und trotzdem passiert mir das – ich brülle. Ich ringe nach Worten. Ich diskutiere. Ich erkläre. Nochmal. Leise. Ich entschuldige mich (manchmal). Und am Ende des Tages stehe ich erschöpft da und hoffe: Bitte lass niemanden einen Schaden davontragen, weil ich gerade nicht ausgeglichen und geduldig bin. Ich bin ausgeschlafen und dennoch müde, kraftlos und gedankenvoll. Ich wäre am liebsten alleine.
Während ich auf die zwei fehlenden Duschvorhangringe starre, klopft jemand an die Tür. Meine Gehörgänge schließen sich. In mir ertönt das Geschrei der Gipsy Kings. Ich singe laut mit. Volare, oh oh…
Logbuch. Der Beginn einer Freundschaft.
Es gibt Leute, die tragen Socken in Sandalen und gestreifte Kniestrümpfe über Leo Leggings.
Ein Geräusch. Ich erwarte (mindestens) ein Wildschwein, welches mich mit Haut, Haaren und Sackkleid fressen will.
Sterntaler-Posing kann ich.
Ich bin müde. Ich verirre mich in Gedanken und verheddere mich in Träumen. Ich atme kaum, seufze mehr. Mein Leben wartet auf morgen.
Ich rede den ganzen Tag. In festgelegten Rollenspiel-Dialogen. Gegen Wände. Viele monoton klingende Worte. Immer dieselben Streitereien. Meine Ausgeglichenheit liegt zusammen mit meiner Motivation im überfüllten Wäschekorb.
Kommunikation. Essenziell: Wann hast Du Physiotherapie? Was wollen wir essen? Wer geht einkaufen?
Mama, ich habe keine Küsskraft mehr. Traurig oder? Ja, sehr.
Ich zwinge mich vor die Tür. Eisiger Wind treibt mir Tränen in die Augen. Ich spaziere durch die Walachei. Einzelne Schneeflocken schmelzen auf meinem Gesicht. Sonnenstrahlen zeichnen meine Silhouette (quadratisch). Ich höre auf zu frieren. Ganz langsam verliert die Schwere an Gewicht.
Mama, Du bist im Schlafanzug vor die Tür gegangen!
Otto freut sich, dass er weiterhin zu Hause bleiben kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dasselbe fühle.
Ich habe ein Bett für Ernie bestellt. Ich vermisse ihn jetzt schon.
Ob es mir gut geht? Ich habe den Vorratsschrank ausgeräumt und eine Inventarliste erstellt.